Die bisherige Verwaltungs- und Auslegungspraxis in Österreich war, steuerfreie Auslandseinkünfte nur im Ansässigkeitsstaat als Progressionseinkünfte zu berücksichtigen, also in jenem Staat, zu dem die engsten persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen bestehen. Durch die Erkenntnis des VwGH vom 7.9.2022 (Ra 2021/13/0067) hat sich dies nun geändert. Nunmehr kann der Quellenstaat die Progressionseinkünfte des Steuerpflichtigen zur Berechnung des anzuwendenden Steuertarifs heranziehen, sofern der Steuerpflichtige dort unbeschränkt steuerpflichtig ist (= Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt), auch ohne dort steuerlich ansässig zu sein. Dies hat vor allem Auswirkungen auf in Österreich ansässige Steuerpflichtige mit österreichischem Arbeitgeber, die ihren Mittelpunkt der Lebensinteressen im Ausland haben und von dort aus im Homeoffice arbeiten.
Sachverhalt
Im konkreten Fall bezog eine in der Türkei ansässige Steuerpflichtige mit Wohnsitz in Österreich Einkünfte von einem österreichischen Dienstgeber. Die berufliche Tätigkeit wurde teilweise in Österreich, teilweise in der Türkei und teilweise in Drittstaaten ausgeübt. Die österreichische Finanzverwaltung stellte zwar die dem Besteuerungsrecht der Türkei zugerechneten Einkünfte in Österreich von der Einkommensteuer frei, zog diese jedoch zur Berechnung des in Österreich auf die österreichischen Einkünfte anzuwendenden Steuersatzes heran (=Progressionsvorbehalt), was nach bisheriger Verwaltungspraxis nur dem Ansässigkeitsstaat vorbehalten war.
Entscheidung des BFG
Daraufhin wurde Beschwerde erhoben, die vom BFG abgewiesen wurde. Begründet wurde dies damit, dass gemäß § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkte Steuerpflicht vorliege und daher Österreich das Besteuerungsrecht am Welteinkommen zustehe. Dies wurde mit zwei VwGH-Erkenntnissen untermauert, wenngleich in diesen Fällen der Sachverhalt anders gelagert war (Österreich war in beiden Fällen Ansässigkeitsstaat und nicht Quellenstaat). Weiters wurde begründet, dass aus dem Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) mit der Türkei keine Unzulässigkeit des Progressionsvorbehalts abgeleitet werden kann. Auch aus den Erläuterungen zum OECD-Musterabkommen ergebe sich nichts Gegenteiliges.
Entscheidung des VwGH
Die Steuerpflichtige erhob in weiterer Folge eine außerordentliche Revision an den VwGH, die dieser jedoch mit Erkenntnis zurückwies. Der VwGH entschied, dass nach österreichischem Recht (§ 1 Abs. 2 EStG) bei unbeschränkter Steuerpflicht Österreich das Besteuerungsrecht für das Welteinkommen zustehe. Die ausländischen Einkünfte seien zwar nach dem DBA freizustellen, aber bei der Ermittlung des Steuersatzes, der auf die in Österreich zu versteuernden Einkünfte anzuwenden ist, zu berücksichtigen. Das DBA mit der Türkei verbiete dies nicht ausdrücklich. Dies hat zur Folge, dass der auf die österreichischen Einkünfte anzuwendende Steuersatz erhöht wird.
Im innerstaatlichen Recht kann der Progressionsvorbehalt insoweit abgeleitet werden, als das Einkommensteuergesetz die Berechnung des Steuersatzes vom (Gesamt-)Einkommen vorsieht. Das DBA führt zwar dazu, dass die Besteuerung der im Ausland steuerpflichtigen Einkünfte der inländischen Besteuerung entzogen wird, es führt aber nicht dazu, dass der Progressionsvorbehalt im Quellenstaat (idF Österreich) vermieden werden kann. Das DBA mit der Türkei bezieht sich im Methodenartikel nur auf den Ansässigkeitsstaat, der Quellenstaat wird nicht erwähnt. Insofern ist die Anwendung des Progressionsvorbehalts im DBA nicht eingeschränkt. Dies dürfte auch in keinem der mit Österreich abgeschlossenen Abkommen der Fall sein.
Die Zweitwohnsitzverordnung wird daher in Zukunft wieder an Bedeutung gewinnen. Nach dieser Verordnung gilt eine Person als beschränkt steuerpflichtig, wenn eine inländische Wohnung nachweislich nicht länger als 70 Tage im Kalenderjahr benutzt wird und der Mittelpunkt der Lebensinteressen für mindestens 5 Kalenderjahre im Ausland liegt. Es besteht somit keine unbeschränkte Steuerpflicht und der Progressionsvorbehalt ist nicht anzuwenden. Wegen des in diesem Fall ggf. anzuwendenden Hinzurechnungsbetrags nach § 102 Abs. 3 EStG wäre ein Günstigkeitsvergleich sinnvoll.
Beispiel
Ein Steuerpflichtiger mit einer (aus beruflichen Gründen) gemieteten kleinen Wohnung und Arbeitgeber in Österreich (=Arbeitgeberstaat) wohnt mit seiner Familie (Ehefrau und Kind) in der Slowakei (=Wohnsitzstaat). Er pendelt wöchentlich zwischen seinem Wohnort in der Slowakei und seinem Arbeitsplatz in Österreich. Montags bis mittwochs übt er seine Tätigkeit in Österreich aus (und nutzt daher in dieser Zeit seine österreichische Wohnung), donnerstags und freitags arbeitet er im Homeoffice in der Slowakei.
Die Einkünfte, die auf Arbeitstage im Homeoffice entfallen, sind in der Slowakei zu versteuern, die Einkünfte, die auf Arbeitstage im Arbeitgeberstaat Österreich entfallen, sind in Österreich zu versteuern. Das steuerpflichtige Einkommen verteilt sich wie folgt:
Österreich: EUR 45.000
Slowakei: EUR 30.000
Steuerbelastung Österreich vor VwGH-Erkenntnis: EUR 11.040,00
Steuerbelastung Österreich nach VwGH-Erkenntnis: EUR 14.634,00
Steueroptimierung kann ggf. durch Reduktion der Arbeitstage im Arbeitgeberstaat Österreich auf 1-2 Arbeitstage pro Woche und Inanspruchnahme der Zweitwohnsitzregelung (Wohnung in Österreich darf an nicht mehr als 70 Tage pro Kalenderjahr genutzt werden) erreicht werden. Der Steuerpflichtige würde dann in Österreich als beschränkt steuerpflichtig gelten und soweit die auf Österreich entfallenden Einkünfte bereits ordnungsgemäß im Rahmen der Lohnverrechnung versteuert werden, käme es weder zu einer Hinzurechnung gemäß § 102 EStG (dies nur bei Antragsveranlagung) noch zur Anwendung des Progressionsvorbehaltes.
Schlussfolgerung
Steuerpflichtige mit Wohnsitz in Österreich (= unbeschränkte Steuerpflicht) und Familie im Ausland (= Ansässigkeit im Ausland) müssen künftig mit einer höheren Steuerbelastung in Österreich rechnen, sofern im Ausland tarifsteuerpflichtige Einkünfte vorliegen. Grund dafür ist, dass nach dem VwGH-Urteil vom 7.9.2022 ausländische Einkünfte bei der Berechnung des Steuertarifs, der auf die österreichischen Einkünfte anzuwenden ist, berücksichtigt werden können (=Progressionsvorbehalt), auch wenn der Steuerpflichtige nicht in Österreich ansässig ist. Eine Optimierung der Steuerbelastung kann bei Vorliegen der Voraussetzungen durch die Inanspruchnahme der Zweitwohnsitzverordnung erreicht werden.
Das VwGH-Urteil erforderte daher auch eine Änderung der Verwaltungspraxis hinsichtlich der Berücksichtigung des Progressionsvorbehaltes bei nicht in Österreich ansässigen, aber unbeschränkt steuerpflichtigen Personen. Diese Änderung wurde mit dem EStR Wartungserlass 2023 in die Richtlinien übernommen (ab Rz 7588 ff bzw. Rz 326). Einkünfte, für die ein DBA das Besteuerungsrecht dem Ausland zuweist, sind nunmehr – entgegen der bisherigen Verwaltungspraxis – bei in Österreich unbeschränkt Steuerpflichtigen für die Ermittlung des anzuwendenden Steuersatzes zu berücksichtigen.
Für nähere Auskünfte stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung (info@artus.at).